Das jüngste Urteil betont die bedeutende Rolle der gerichtlichen Überprüfung bei der Bewertung der Nutzen-Risiko-Bilanz von Arzneimitteln. Trotz der Zulassung durch Behörden schließt diese nicht aus, dass das Gericht das Nutzen-Risiko-Verhältnis unabhängig prüft. Diese Entscheidung verdeutlicht die rechtliche Klarstellung, dass die Zulassung eines Medikaments nicht automatisch die Haftung des Herstellers ausschließt, insbesondere wenn nachträglich neue Erkenntnisse auftreten.
Urteil Landgericht Itzehoe
(aa) Die Zulassung eines Medikaments oder Impfstoffs durch die zuständigen Behörden bedeutet nicht, dass damit eine gerichtliche Prüfung, ob eine negative Nutzen-Risiko-Bilanz anzunehmen ist, ausgeschlossen wird. Nach § 25 Abs. 2 Nr. 5 AMG darf zwar die zuständige Behörde die Zulassung versagen, wenn u.a. das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Arzneimittels ungünstig ist. Die Bewertung dieser Frage im Rahmen des Zulassungsverfahrens unterliegt aber der vollständigen gerichtlichen Überprüfung; der Behörde steht insoweit kein eigenständiger Beurteilungsspielraum zu (Kügel u. a./Kügel, 3. Aufl., § 25 AMG Rn. 69). Zudem regelt § 25 Abs. 10 AMG, dass die erteilte Zulassung „die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit des pharmazeutischen Unternehmers unberührt“ lässt. Dies bedeutet, dass sich der Unternehmer grundsätzlich nicht mit dem Argument exkulpieren kann, dass ein Arzneimittelschaden durch ein zugelassenes Präparat verursacht wurde (Erbs/Kohlhaas/Pfohl , Strafrechtliche Nebengesetze, 254. EL Oktober 2024, § 25 AMG Rn. 2; Weber/Kornprobst/Maier/Weber , BtMG, 6. Aufl., § 25 AMG Rn. 9). Die Zulassung eines Arzneimittels hat grundsätzlich keine tatbestandsauschließende oder rechtfertigende Wirkung (Erbs/Kohlhaas/Pfohl , 254. EL Oktober 2024, § 25 AMG Rn. 4).
(bb) Nach der wohl überwiegend in der Literatur vertretenen Auffassung ist allerdings im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs aus § 84 AMG die Zulassung ein „gewichtiges Indiz“ für eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz (Kügel u. a./Brock , § 84 AMG Rn. 85; vgl. auch Bergmann u. a./Brixius, Gesamtes Medizinrecht, 4. Aufl., § 84 AMG Rn. 6) und damit für einen Haftungsausschluss nach § 84 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AMG. Und nach einer in Teilen der Rechtsprechung vertretenen Auffassung soll die positive Nutzen-Risiko-Bilanz mit der Zulassung eines Arzneimittels sogar feststehen (OLG Koblenz, Urteil vom 10. Juli 2024 – 5 U 1375/23, 2. Leitsatz, zitiert nach juris).
Nach Auffassung der Kammer ist insbesondere die zuletzt genannte Ansicht zu weitgehend. Sie steht nicht im Einklang mit der Regelung des § 25 Abs. 10 AMG, wonach die Zulassung die zivil- und strafrechtliche Verantwortlichkeit des pharmazeutischen Unternehmers unberührt lässt und nicht einschränken soll und die Bewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses im Rahmen des Zulassungsverfahrens der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit unterliegt (s. o., Kügel u. a./Kügel, 3. Aufl., § 25 AMG Rn. 69). Zudem ist zu berücksichtigen, dass – wie oben bereits ausgeführt – nach zutreffender Ansicht für die Frage der Nutzen-Risiko-Bilanz auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist und die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse auf den Zeitpunkt, zu dem das Arzneimittel in den Verkehr gebracht wurde, zurück zu projizieren sind (vgl. OLG Schleswig, Urt. v. 20.12.2013 – 4 U 121/11 – Juris bei Rn. 45). Bei der Entscheidung über die Zulassung eines Arzneimittels können aber die weiteren Erkenntnisse, die sich erst später herausgestellt haben, noch nicht einbezogen worden sein. Insofern kann allein aus der Zulassung eines Arzneimittels nicht auf eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz geschlossen werden, da dann die erst später nach der Zulassung und dem Inverkehrbringen des Arzneimittels bis zur mündlichen Verhandlung im Haftungsprozess bekannt gewordenen weiteren Erkenntnisse ausgeblendet blieben.
Selbst wenn man aber prinzipiell der Gegenansicht folgt und aufgrund der Zulassung von einer positiven Nutzen-Risiko-Bilanz ausgeht, lassen sich im vorliegenden Fall die Erfolgsaussichten für einen Anspruch nach § 84 Abs. 1 AMG nicht verneinen. Denn es handelt sich bei dieser insbesondere vom OLG Koblenz vertretenen Ansicht nicht um gesicherte obergerichtliche Rechtsprechung. Von den Obergerichten hat bislang allein das Oberlandesgericht Koblenz die Auffassung vertreten, mit der Zulassung eines Arzneimittels stehe auch dessen positives Nutzen-Risiko-Verhältnis fest. Diese Ansicht wird zwar auch von zahlreichen Landgerichten vertreten, andere Oberlandesgerichte und insbesondere der BGH haben sich zu dieser Frage bislang aber – soweit ersichtlich – noch nicht geäußert. Gibt es aber zu einer Rechtsfrage – wie der zuvor dargestellten – noch keine gesicherte (obergerichtliche) Rechtsprechung, so lassen sich die Erfolgsaussichten einer Schadensersatzklage nicht im Rahmen eines Verfahrens verneinen, das auf Deckungsschutz gerichtet. Vielmehr muss diese Rechtsfrage dann im Hauptsacheverfahren, hier dem Bezugsverfahren, geklärt werden (vgl. BGH, Urteil vom 20.04.1994 – IV ZR 209/92 – zit nach Juris bei Rn. 14; Piontek, in: Prölss/Martin, VVG, 35. Aufl. § 1 ARB 2010 Rn. 9).
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Fazit
Insgesamt unterstreicht das Urteil die Notwendigkeit einer gründlichen gerichtlichen Prüfung im Zusammenhang mit der Zulassung und dem Inverkehrbringen von Arzneimitteln. Es hebt hervor, dass die positive Nutzen-Risiko-Bilanz nicht allein durch die Zulassung belegt ist, insbesondere wenn nachträglich neue Informationen auftauchen. Diese Klarstellung trägt zur rechtlichen Sicherheit bei und verdeutlicht die Bedeutung einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung im Haftungsfall gemäß § 84 AMG.